Deutsch (DE-CH-AT)   English (United Kingdom)   Türkçe(Tr)   Français(Fr)   Italiano(Italy)

1. Einleitung

 

Kaum ein Star, der nicht seine Beichte in Schriftform ablegt: Autobiographien genießen eine ungeahnte Popularität, von Hape Kerkeling bis hin zu Helmut Schmidt, von Dieter Bohlen bis hin zu Helene Fischer, von Charlotte Roche bis hin zu Sarah Kuttner. Und nun auch noch Thomas Gottschalk. Das Schreiben über das Selbst interessiert all jene, die glauben, ihr Leben sei nichtswürdig, langweilig und öde. Die Stars repräsentieren unsere Gier nach Leben und Sensation. Sie leben, was andere sich nicht (zu)trauen. Sie führen ein Leben, das ganze Seiten voll Berichte wert ist und diese Berichte werden gekauft, weil sie uns nahebringen, wie es ist, erfolgreich, gefragt, gebucht, schön und reich zu sein. Und wenn das alles nicht zieht, eben Drogen- und Alkoholopfer, Vergewaltigungsopfer, Pilger/in, Witwe/r, Säureopfer oder Paria. Das schwierige Elternverhältnis, das Mobbing in der Schule, die geschiedene Ehe oder der schlagende Ehemann, der korrupte Geschäftspartner oder der ungerechte Chef: all das eignet sich, um den gemeinen Menschen davon zu erzählen, wie steil der Weg nach oben ist.

Im Rampenlicht zu stehen, gewährt vielen eine Aufmerksamkeit, die sie sonst niemals bekämen. Nach seinem Abtauchen in Neuseeland hatte sich Harald Schmidt vor einigen Jahren im Interview mit der Journalistin Sandra Maischberger beispielsweise auf dem Sender „ntv“ einst wieder fröhlich vor der Kamera geäußert: "Ich passe in jede Ära!" Ein Satz, der aus dem Mund einer Politiker-Diva stammen könnte. Der deutsche David Letterman plauderte über seine profanen Aktivitäten und gab zum Besten: "Ich bringe die Kinder in die Schule", was ihn nicht depolitisiert habe, denn ganz bildungsbeflissen verwies er auf Zitate des begnadeten Karl Kraus. Er wollte also demonstrieren, dass er ein ganz normales Leben führe, nachdem er jahrelang andere vor der Kamera vorgeführt hatte und andere sich darüber krumm gelacht haben. Der Jugend ganz nah, beließ Harald Schmidt jeder Generation gerne das Recht auf ihre eigene Musik, denn zu sagen Rap sei "grässlich", mache einen so grässlich alt. Der midlife crisis soeben entkommen, bemerkte er ganz unbescheiden: "Es spielt keine Rolle was geschrieben wird. Ich bin mein eigener Maßstab." Und dem Thema "Frauen, Familie und Beruf", das hierzulande aufgebauscht werde, stand er ganz und gar feministisch gegenüber: er fand es schon früher ungeheuerlich, dass man den Deutschen quasi die Fortpflanzung befehle, wie er es ausdrückte.

Denn Deutschland hat ein ernsthaftes demographisches Problem, das die Rentenkassen und den Nachwuchs mau aussehen lässt. Da wird von vielen Seiten beschworen, dass es Deutschland ganz guttäte, Rassismus in die Schranken zu weisen, da es auf Fremde angewiesen ist wie kaum ein anderes Industrieland. Kein Phänomen eignet sich dabei so sehr für eine Analyse „von unten“ wie das des Rassismus. Viel ist darüber geschrieben, über Ethno- und Eurozentrismus geklagt und vom kolonialen Erbe geredet worden, das totgeschwiegen worden war, nachdem auch Nazideutschland gerade mal in den Geschichtsbüchern vorkam, viel zu wenig aber im kollektiven Aufarbeitungsgedächtnis. Glorreiche Beispiele von gelungenem Multikulturalismus wurden ins Feld geführt wie Australien und Kanada, dessen Kehrseiten nur einige mutige Autoren anzusprechen wagten.

Das Problem jedoch beginnt bereits mit dem Schreiben. Schrift ist die mediale Voraussetzung für Erinnerung, dem zentralen Vorgang in der Geschichtswissenschaft, und sie stellt in Frage, was zu analysieren ist, ob nun in Tagebüchern, Briefen, Biographien, Romanen, Reden, Akten oder Autobiographien. Manfred Schneider führt aus: „Der Schrift ist das Privileg der Wahrheit entrissen worden, der Vorzug des treuen und zeit-resistenten Speichers. Die Geschichte des menschlichen Gedächtnisses – wir halten uns an ihre Spuren in den Autobiographien – stellt in ihren epochalen Varianten jeweils eine getreue Theoretisierung des historischen Standes der Speichertechnologien dar.“1 Dasselbe könnte man auch über die Sprache sagen, die wiederum das Medium ist, in dem Schrift entsteht. Sie bedeutet nach Jacques Derrida einerseits die Nachträglichkeit der Bedeutung gegenüber ihrer sprachlichen Repräsentanz. Demnach sind die Bedeutung des Aufgeschriebenen und die Bedeutung, die es beim Aufschreiben gehabt hat, nicht identisch. Mit fortlaufender Lektüre entstehen somit ständig neue Bedeutungen. Andererseits bekommt einen Sinn, wem oder was wir einen Namen geben: Signifikant und Signifikat treten in Beziehung zueinander und erleichtern uns die Einordnung, derer das menschliche Gehirn bedarf, um etwas erkennen zu können – als feindlich oder freundlich, als groß oder klein, als rund oder eckig, als bunt oder einfarbig, als lebendig oder tot, etc. Dass wir etwas wahrnehmen, haben wir vorrangig unserem Sehsinn zu verdanken, der heute in der blitzschnellen Abfolge von Bildern die Welt wahrnimmt, ob nun auf Fotos, auf dem iphone, am Computerbildschirm, im Fernsehen oder im Kino, den heutigen technischen Speichern des Gedächtnisses. In Donna Harawayscher Manier bedeutet das: „Kämpfe darüber, was als rationale Darstellung der Welt gelten darf, sind Kämpfe über das Wie des Sehens.“2 Sie fragt sich wie die Welt wohl aussähe ohne Fovea und mit nur wenigen farbempfindlichen Netzhautzellen, aber stattdessen mit einem ausgeprägteren Geruchssinn.3 Und sie fragt weiter: „Wessen Blut wurde vergossen, damit meine Augen sehen können?“

Sobald Verursacher und Autor ein und dieselbe Person sind, ist eine Aufklärung kaum möglich. Aus feministischer Perspektive erinnert uns Donna Haraway daran, dass „Feministinnen keine Objektivitätslehre [brauchen], die Transzendenz verspricht, weder als Geschichte, die die Spur ihrer Vermittlungen immer dann verliert, wenn jemand für etwas verantwortlich gemacht werden könnte, noch als unbegrenzte instrumentelle Macht.“4 Stattdessen hätten „die Unterworfenen […] eine passable Chance, dem göttlichen Trick mit seinen blendenden – und deshalb blindmachenden – Illuminationen auf die Schliche zu kommen. „Unterworfene“ Standpunkte werden bevorzugt, weil sie angemessenere, nachhaltigere, objektivere, transformierendere Darstellungen der Welt zu versprechen scheinen.“5 Es gibt – so schreibt sie – gute Gründe für die Annahme, dass „die Sicht von unten besser ist als die von den strahlenden Weltraumplattformen der Mächtigen herab.“6

Machen wir uns als dechiffrierfähige Individuen zunächst einmal bewusst, dass die Verbreitung der Schrift nicht so groß war und ist wie wir naiverweise annehmen möchten. In Deutschland – so fand eine Studie heraus – sind von den 2003 weltweit gezählten 862 Millionen Analphabeten mehr Personen betroffen als man bisher glaubte: Laut einer Studie der Universität Hamburg sind ca. 4% der Erwachsenen totale Analphabeten, während 14% der erwachsenen Bevölkerung funktionale Analphabeten sind, d.h. sie können zwar einzelne Sätze, aber keine zusammenhängenden – also komplexen – Texte lesen und schreiben. 7,5 Millionen Deutsche sind betroffen, doppelt so viele als bislang angenommen.

Historisch gesehen war das Lesen und Schreiben eher ein Privileg der Eliten und im Mittelalter gar von Mönchen, die in der Abgeschiedenheit der Klöster Texte per Hand kopierten. In der modernen Welt nehmen uns Kopiergeräte das ab, wofür fleißige Mönche oft Wochen und Monate brauchten. Dabei kommt dieser Grundlage für jegliche Bildung eine Doppelfunktion zu: einerseits stattet sie uns mit Wissen und damit auch mit Selbstvertrauen und Macht aus, andererseits ist sie der Minderwertigkeitskomplex mit dem höchsten Prestige: wer viel weiß, gilt viel, muss sich aber auch vorwerfen lassen, unter dem Komplex zu leiden, seine Welterklärungen für Wahrheiten zu halten.

Dass sich vor allem in der Moderne viele daran machten ihr eigenes Leben zu dokumentieren, mag daran liegen, dass diese Epoche von stärkeren Individualisierungstendenzen geprägt war als andere vor ihr. „Was alle Autobiographien so wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit“, beklagte einst einer der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Tatsächlich fand die literaturwissenschaftliche Forschung heraus, dass oft mehr Fiktion als Fakt in ihnen enthalten ist, liefert sie doch ein bleibendes Bild für nachfolgende Generationen, und dass das Schreiben über das Selbst dennoch einem beichtenden Begehren gleichkommt. Mittlerweile ist das Alter, in dem Autobiographien entstehen, stetig gesunken: mit nur siebzehn Jahren schrieb beispielsweise Benjamin Lebert „Crazy“, einen autobiographischen Roman, dem man zugute halten darf, Fakt und Fiktion gekonnt zu vermengen, so dass dem Leser gar nicht erst vorgegaukelt wird, es mit Authentizität zu tun zu haben.

Mit dem Erinnern aber geht auch das Vergessen einher, ist doch nie gänzlich gewährleistet, dass der Autor ein lückenloses Zeugnis ablegen kann. Für Augustinus war das kein Problem. In seinen „Confessiones“ – mit der die neuzeitliche Autobiographie ihren Anfang nimmt – erwähnt er das Vergessen nur im Zusammenhang mit der Macht des Gedächtnisses – dem „Magen des Geistes“ wie er es nennt – , das ja auch das Vergessen wiedererkennen kann. Für diesen Glauben an die Speichermacht (aber auch speiende Macht) des Gedächtnisses sind das Trüben der Erinnerung oder die Unsicherheit noch kein Thema, was eventuell mit der geringen Verbreitung der Schrift in der damaligen Zeit korreliert. Mit dem Schreiben über das Selbst bricht jedoch plötzlich „ein Imperativ der Erinnerung aus dem neuen System hervor“.7

Im westlich-europäischen Kulturraum hat man in Anlehnung an Goethes „Dichtung und Wahrheit“ vor allem drei Merkmale zum Maßstab der Autobiographie erhoben: die kohärente Persönlichkeitsentwicklung, die Beispielhaftigkeit des subjektiven Bildungsgangs für die Epoche und die in sich geschlossene Rückschau. Was Philippe Lejeune 1994 als „autobiographischen Pakt“ umschrieben hat, bezeichnet den mit diesen drei Merkmalen korrespondierenden Anspruch der Leser, es bei der Lektüre der Autobiographie mit einem authentischen Dokument zu tun zu haben. Erst mit der modernen Subjektkrise geriet diese Sicht auf das Verhältnis zwischen Leser und Autor/Autobiograph ins Wanken. „Warum schreiben? Wozu? Und wozu, seit kein Auftrag mehr da ist von oben und überhaupt kein Auftrag mehr kommt, keiner mehr täuscht.“ fragte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann 1960 in ihren Frankfurter Vorlesungen und ließ die nüchterne Erkenntnis folgen: „Die Realitäten von Raum und Zeit sind aufgelöst, die Wirklichkeit harrt ständig einer neuen Definition, weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert.“

Wie konnte es dazu kommen? Aber viel wichtiger: Welches sind die Wege aus der Krise?

 

Was Bachmann hier über die mühsame Rolle des desorientierten Dichters in der Gesellschaft umreißt, geht weit über die Frage nach den Möglichkeiten des Sprechens und Schreibens des professionellen Schriftstellers hinaus. Sie weist auf die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit der Welt im Medium des geschriebenen oder gesprochenen Wortes, je nach Vorliebe des sich der Zeichen bemächtigenden Subjekts. Die Souveränität eines absoluten Textes ist erschüttert, so erklärt uns Bachmann das gestörte Verhältnis „zwischen Ich und Sprache und Ding“. Aber was kommt danach? Haben Strukturalismus, Dekonstruktivismus und andere Wege aus der Krise uns keine Klarheit liefern können über die Grenzen der Darstellbarkeit der Welt und unserer Rolle darin als handelnde Subjekte?

Seit Michel Foucault, freilich jenseits des Strukturalismus, mit dem er nicht in Verbindung gebracht werden wollte, mit seinem vermeintlich „bösen Blick“ dem krisengebeutelten postmodernen Subjekt dessen Möglichkeit einer Ästhetik der Existenz vorgeführt hat, scheint die Unmöglichkeit des Sprechens und Schreibens in der Gegenwart zumindest ihrer in Bachmanns Zitat beschworenen Unvermeidlichkeit beraubt. „Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustande bringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ sagte Foucault 1983 in einem Interview mit Paul Rabinow und Herbert Dreyfus. Hatte der französische Historiker und Philosoph doch das zentrale philosophische Problem darin gesehen herauszufinden, was wir in der Gegenwart sind, indem wir uns das, was wir sein können, „ausdenken und aufbauen“.

Neue Formen der Subjektivität“ – was verstand Foucault darunter? Sein Weggefährte und Freund Gilles Deleuze formulierte einmal, dass das Studium der Variationen der Subjektivierungsprozesse die Aufgabe sei, die Foucault jenen hinterlassen habe, die ihm möglicherweise folgen würden. Was Foucault selbst über den Wahnsinn, die Sexualität und die Kriminalität des Subjekts herausgefunden zu haben glaubte, ließe sich demnach für andere Phänomene des menschlichen Lebens unter dem Aspekt der Subjektivierung fortführen.

Michel Foucaults Machtanalytik auf die Lebensverhältnisse des nordamerikanischen Ureinwohnervolkes der Metis anwenden zu wollen, mag zunächst befremdlich erscheinen. Was haben das Studium der Psychiatrie, der Klinik und des Gefängnisses, wie es Foucault zeitlebens betrieben hat, mit der ethnologischen und ethnographischen Analyse einer sogenannten Mischkultur zu tun?, so mag man fragen. Sind nicht alle Kulturen und Gesellschaften Mischungen aus allen möglichen Facetten der menschlichen Existenz? Die Triade aus Wissen, Macht und Subjektivität, wie sie Foucault als dritte Dimension im Dispositiv – im Zustand verschiedener Kräftelinien, die sich kreuzen und gegenseitig befruchten – zu entdecken glaubte, eignet sich für das ethnologische Studium nicht allein aufgrund ihrer Komplexität, eine Komplexität wie sie gesellschaftlichen Zuständen gemein ist. Es ist vor allem die dritte Komponente, die der Subjektivität, die Foucaults Machtanalytik für das ethnologische Fragen so fruchtbar macht. Nicht erst seit Claude Lévi-Strauss´ Offenbarung, dass sich primitives und zivilisiertes Denken nicht unterscheide, sind Zweifel an der Dichotomie primitiv/zivilisiert angebracht. Wenn dieses von Anthropologen, Historikern und Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts bis ins Absurde kultivierte Zivilisationskonstrukt lediglich den Nachweis der europäischen Überlegenheit gegenüber „eingeborenen“ Völkern erbringen sollte, nicht jedoch dem Auffinden einer vermeintlichen Wahrheit diente, so stellt sich die Frage: Was sagten, dachten und schrieben diese Eingeborenen selbst? Wie konstituierten sie ihre Identität gegen die Versuche der eindringenden Kolonisatoren, sie auf das „Andere“ zu reduzieren – das „Andere hier nicht als das Recht auf Anderssein, wie sie im Sinne Foucaults ein erfolgreicher Subjektivierungsprozess darstellen könnte, sondern das bedrohliche Andere, das nicht zum eigenen Selbst Gehörende und daher möglichst zu Eliminierende?

Eine neue Stoßrichtung in der Metis-Forschung müsste sich demnach der Aufgabe widmen, die produktive und beständige Neubildung dieser eigenständigen Kultur herauszustreichen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund einer rassistisch motivierten Geschichtsforschung und Wissenschaft, wie sie noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts betrieben worden ist, von Nöten. Diese ältere und veraltete Forschungsrichtung, sei es in der Anthropologie, der Ethnologie oder sogar der Soziologie, hat zu einem verkürzten Verständnis der Metis geführt, indem sie diese auf eine negative Identifizierung in Abgrenzung von europäischen Konzepten gesellschaftlicher Formation und Individuation reduziert hat. Auch muss künftig vermieden werden, die Metis allein als Synthese aus ihren Vorläuferkulturen der europäischen und indianischen Elemente zu begreifen. Vielmehr ist der Subjektivierungsprozess im Sinne Michel Foucaults aufzuzeigen.

Es zeigt sich, dass Autobiographien auch im Westen bzw. bei Weißen nicht einfach beschreiben „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke) im Leben des Erzählers, sondern dass sie in diskursiven Funktionszusammenhängen und historisch-politischen Kontexten entstehen, die die vermeintlichen Wirklichkeitsaussagen auf bestimmte Konstruktionsprinzipien zurückführen lassen. So ist auch im Fall der Indian und Metis Autobiographie die Fiktionalität der Texte, die die Vergangenheit über die Schrift zurückzuholen trachten, sich dabei aber eher als produktive Möglichkeit des Neuschreibens entpuppen, offenkundig. Nachzuspüren, inwieweit Erkenntnisse über Wissensformen einer eigenständigen Kultur, die mehr ist als die Summe ihrer Vorläuferkomponenten der Indianer und der Europäer, kann die diskursiven und politischen Funktionen des autobiographischen Schreibens aufdecken sowie die Bedingungen spezifischer Machtkonstellationen. Ihnen wohnt zusätzlich eine prekäre Dimension dadurch inne, dass sie sich zum einen teilweise auf die Beteiligung europäischer/euroamerikanischer Interviewer und Verleger beim Abfassen der Texte, zum anderen auf das Schreiben in einer fremden Sprache stützen, denn bislang ist keine Autobiographie von Metis nur in deren Sprache Michif oder Cree verfasst. Zugleich kommt dieser Textsorte ein Geständnischarakter zu, weil das in manchen Fällen vorhergehende Frage-Antwort-Spiel einem Verhör glich. Das Aufzeigen der Disziplinarstrategien und Überwachungstechniken, die der Autobiographie innewohnen, ist auf Foucaults Machtanalytik zurückzuführen, und ist daher für die Fragestellung auch aus dieser Perspektive fruchtbar. In Bezug auf die Metis ließe sich aufgrund des katholischen Glaubens vieler Metis die Autobiographie in diesem Sinne nicht nur als Möglichkeit des Lebensentwurfs, sondern auch als religiöse Beichte deuten.

Ein weiterer Aspekt ist für die Untersuchung der Texte bedeutsam: Autobiographien von Metis überschreiten den Rahmen eines europäischen „Genre“-Verständnisses. Hartmut Lutz hat dies in den Worten „the oral tradition transcends European notions of genre“ ausgedrückt und damit der schwer fassbaren Kategorie der Indian autobiography das Wort geredet. In der Tat fühlen sich auch die Metis trotz übernommener Schriftlichkeit, die durch Zwänge einer westlichen Verlagspolitik und einer weitgehend fremden Sprache (zumeist Englisch) diktiert wurde, ihren oralen Traditionen verpflichtet. Das bringt zum einen ein Autorenverständnis mit sich, das sich von verbreiteten westlichen Vorstellungen abhebt. Der Autor/Autobiograph ist nicht Dichter, sondern Geschichtenerzähler, setzt also die orale Tradition des Geschichtenerzählens seiner Kultur in anderer – eben schriftlicher Form – fort. Es wird demnach zum einen keine individuelle Einzigartigkeit anhand des eigenen Lebens, sondern eine kollektive Identität hergestellt. Zum anderen hat die Transzendierung des europäischen Genres der Autobiographie dazu geführt, dass diverse literarische und andere Elemente miteinander verknüpft wurden, so zum Beispiel Prosa und Lyrik, Photographie und Zeichnungen, Text und Bild. Diese „Multiform“-Autobiographie ist beispielsweise im Werk von Lee Maracle aus den 1980er Jahren repräsentiert.

Das zweite Instrumentarium, mit dem die Autobiographie bearbeitet werden kann, ist das der historischen Anthropologie beziehungsweise der anthropological history. Sie bringt im Gegensatz zu alltags- und mentalitätsgeschichtlichen und klassisch anthropologischen Methoden den Vorteil mit, dass sie einen Blick auf den Menschen erlaubt, der ihn nicht länger als Opfer alles determinierender Strukturen erscheinen lässt, sondern ihm die aktive Rolle des Gestalters seiner sozial konstruierten politischen und historischen Wirklichkeit zugesteht. Wir selbst sind die Strukturen. Das Instrumentarium der historischen Anthropologie eignet sich wie kein anderes dazu, den Blick auf das Fremde zu richten, der über exotische Zustandsbeschreibungen weit hinausgeht. Wie Michael Wimmer bereits formuliert hat: „Die neue Frage nach dem Fremden ergibt sich (…) als theoretisch-epistemologische im Zusammenhang mit der Vernunft- und Subjektkritik, als historische durch die (Selbst-)Kritik der Moderne, als ethisch-praktische bzw. kulturell-politische mit der Kritik an den Bewältigungsstrategien westlicher Gesellschaften gegenüber dem Fremden, angefangen bei der Eroberung des Raums durch expansiven Angriff, über die koloniale Unterwerfung und Ausbeutung bis hin zur geistigen und kulturellen Vereinnahmung und Unterordnung fremder Erfahrungswelten und Traditionen in das eigene Weltbild und Wirklichkeitsverständnis.“8 Der Ansatz der historischen Anthropologie weist eine augenfällige Nähe zu Foucaults Machtanalytik auf, die sich ebenfalls stets dem Fremden in verschiedenen Manifestationsformen zugewandt hat. Beide Instrumentarien können daher sinnvoll auf unsere Fragestellung angewandt werden.

 

 

2. Stephen Greenblatts „New Historicism“ als Verflechtung von Kunst und Kultur und Michel Foucaults Machtanalytik

 

Zentrales Theorem Stephen Greenblatts ist die notwendige und beiderseitige Verflechtung von Kunst und Kultur, in unserem Fall der Literatur. Beide systematisch zu trennenden Bereiche stehen in einem Verhältnis ständigen Austausches zueinander. Zur Erfassung der intrakulturellen Vermittlung von Kunst und Kultur fordert Greenblatt präzise Begriffe: „Wir müssen Begriffe entwickeln, mit denen wir darlegen können wie Material – in diesem Fall amtliche Dokumente, private Papiere, Zeitungsausschnitte usw. – von einem Bereich des Diskurses in einen anderen übersetzt und damit ästhetisches Eigentum wird.“9

Mit wirtschaftswissenschaftlichen Termini und vitalistischen Vokabeln beschreibt der ehemalige Marxist die Vermittlung zwischen beiden Systemen. Soziale Energien und gesellschaftliche Kräfte befinden sich ähnlich dem Umlauf des Geldes in einer fortwährenden Zirkulation und werden von den verschiedenen Subsystemen der Literatur transformiert, akkumuliert und repräsentiert: „Mit anderen Worten, das Kunstwerk ist Produkt eines Geschäfts zwischen einem Schöpfer oder einer Klasse von Schöpfern ausgestattet mit einem komplexen, gemeinschaftlichen Repertoire an Konventionen. Um das Geschäft zu ermöglichen, müssen Künstler eine Währung prägen, die für einen sinnvollen gegenseitig gewinnbringenden Austausch tauglich sein muss.“10 Die wissenschaftliche Erfassung der interdiskursiven Geschäftsverhandlungen zwischen Kunst und Kultur wird von Greenblatt jedoch nicht mit ökonomischen, sondern notwendigerweise mit literaturwissenschaftlichen Begriffen vorgenommen. Die zumeist der klassischen Rhetorik entlehnten Begriffe sollen die Spuren der Verhandlungen in einer Kultur diskursanalytisch ermitteln. Im Umgang mit literarischen Diskursen hat nach Greenblatt die textimmanente Analyse als conditio sine qua non der kulturwissenschaftlichen Kontextualisierung vorauszugehen: „Man muss alles Verfügbare nutzen, um jene Sicht des komplexen Ganzen [der Kultur] zu konstruieren.“ ohne als endgültig oder abgeschlossen zu gelten. Die literarischen Texte fungieren bei ihm als Gedächtnis insofern als diese die Grenzen des Möglichen einer Kultur speichern. Der Wissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, den kulturellen Horizont der literarischen Texte zu erinnern.11

[Die] kollektiven gesellschaftlichen Konstruktionen definieren einerseits das Spektrum ästhetischer Möglichkeiten in einem gegebenen Modus der Darstellung und verbinden diesen Modus andererseits mit dem komplexen Netzwerk von Institutionen, Praktiken und Anschauungen, die die Kultur als ganze konstituieren.“12 Kultur bedeutet nach Greenblatt ein historisch soziales Ganzes, das ein Ensemble von Techniken umfasst und sowohl einschränkend als auch in Anlehnung an Foucaults Begriff der Macht befördernd wird. Die kulturellen Techniken sind eingebettet in ein Kräftefeld, das in modifizierter Weise seine Spuren im Bereich der Literatur – explizite und implizite Werte, Handlungs- und Verhaltensmodelle, Restriktionen und Garanten der Mobilität, rhetorische Strategien, etc. – hinterlässt.

Michel Foucault erweitert das Spektrum des Analyserahmens durch seine neue Begrifflichkeit von Macht. Wurde Macht vormals noch als repressive Unterdrückung in Form beispielsweise eines Staatsapparates verstanden, so wird sie nun zu einem produktiven Kräfteverhältnis mit abgesteckten Frei- und Freiheitsräumen. Die Macht wirkt nicht direkt auf den Handelnden, sondern auf sein Handeln – sie prädeterminiert seine Handlungsoptionen. Demnach ist unter Machtverhältnissen ein Nicht-Handeln nicht möglich und wird zu einem Strategiespiel, das auch Erhard Friedberg und Michel Crozier für ihren Erklärungsansatz der modernen Organisation fruchtbar gemacht haben.

Zentral in Foucaults Denken ist das Modell des Dispositivs, das gemäß Gilles Deleuze „gemischte Zustände“ bezeichnet, aber auch Gefüge und Verkettungen.13 Es gilt Linien zu entwirren und nicht etwa einzelne Punkte nachzuzeichnen, um in den Begriffen der Geometrie zu bleiben. Deleuze sprach für seinen Freund, der 1984 in Paris verstarb, als er zu beschreiben versuchte wie Dispositive funktionieren: in den Verkettungen sind Vereinheitlichungsbrennpunkte, Totalisierungsknoten und Subjektivierungsprozesse zu finden, um einer unruhigen Linie zu folgen. Nicht Ursprünge gilt es demnach aufzuspüren, sondern die Dinge „dort wo sie sprießen“, nämlich in der Mitte, aufzubrechen, nicht das Ewige zu suchen, sondern die Aktualität. Damit befinden sich die Autoren in der Nähe von Aristoteles „energeia“ und Nietzsches „Unzeitgemäßem“.

Foucault begriff Philosophie als die Kunst der Oberflächen, und zwar der Oberflächen der Inschriften: „Die Aussage ist gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen.“14 Deleuze erklärt: „Die Archäologie ist die Konstitution einer Oberfläche der Inschrift. Wenn man keine Oberfläche der Inschrift konstituiert, bleibt das Unverborgene nicht sichtbar. Die Oberfläche steht nicht im Gegensatz zur Tiefe (man kommt wieder an die Oberfläche zurück), sondern zur Interpretation. Foucault stand immer in Gegensatz zu den Interpretationsmethoden. Interpretiert nicht, experimentiert...! Das bei Foucault so wichtige Thema der Falten und Faltungen verweist auf die Haut.“15 Denn schon Paul Valéry wusste: „Die Haut ist das Tiefste.“ Nicht umsonst sagt man etwas gehe „unter die Haut“, wenn es einen ganz besonders berührt.

Foucault wollte, dass jeder Mensch für sich selbst spricht und nicht im Namen anderer oder für andere. Deleuze führt aus, dass das selbstverständlich nicht bedeute „für jeden schlägt einmal die Stunde der Wahrheit, seiner Memoiren oder seiner Psychoanalyse“, sondern „die unpersönlichen physischen oder geistigen Mächte zu benennen, denen man sich gegenübersieht und gegen die man kämpft, sobald man ein Ziel zu erreichen versucht“16.

Das Sein ist demnach zutiefst politisch, indem ein Wirken außerhalb der Machtgefüge der Gesellschaft nicht möglich ist. Doch Foucault wollte nicht die Macht selbst analysieren, sondern zentral war für ihn das Subjekt, das seiner eigenen Identität verhaftet ist. Macht macht aus Individuen Subjekte, Unterworfene unter das Spiel ihrer Regeln. Der berühmte „double-bind“ ist die gleichzeitig stattfindende Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen.

 

3. Schrift und Sprache seit ihren Ursprüngen

 

3.1. Wann begann der Menschen zu sprechen?

    1. Die Ursprünge der Schriftkultur

    2. Antike: Griechen und Römer

    3. Mittelalter: Augustinus

    4. Renaissance:

    5. Moderne:

    6. Postmoderne:

 


  1. Geschlechtsspezifische Aspekte des Schreibens

 

4.1. Männer und Frauen

 

Die Konstanzer Linguistin und Journalistin Luise F. Pusch hat 1984 einen neuen Vorstoß in der feministischen Linguistik gewagt, als sie ihr Buch „Das Deutsch als Männersprache“ veröffentlichte. Nachdem über „Manglish“ (Englisch) bereits mehrere Monographien herausgegeben worden waren, betrat ihr Buch Neuland in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Mit dem Verweis auf bereits existierende Forschungsströmungen konnte sie die Feinheiten im Sprechen über Geschlecht und Geschlechtszugehörigkeit herausstreichen. Bereits auf dem Buchdeckel empört sie sich über die Aussage „Sie empfängt ein Kind von ihm“ und unterstreicht, dass sie schließlich kein Paket hergestellt habe oder etwa eine Radiosendung. „Vielmehr kriege ich es fix und fertig geliefert.“ Das einzige, was sich empfangen ließe, sei der männliche Samen.17 Ihr Thema ist zwar nicht die männliche Besetzung der Sprache durch ihnen wohl gestimmte Ausdrücke, doch deckt ihr Buch auf, wie sehr Frauen sprachwissenschaftlich benachteiligt werden. Deutliche Unterscheidungen, die die deutsche Sprache kennt, werden beispielsweise im mündlichen Gebrauch oder im geschäftigen Gemurmel der Alltagswelt oft stiefmütterlich behandelt. Und da haben wir sie wieder – die negative Besetzung einer weiblichen Eigenschaft: Man sagt eben nicht „stiefväterlich behandeln“, sondern „stiefmütterlich behandeln“, gibt es doch unzählige Querverweise auf den Topos der bösen Stiefmutter; gar der bösen Großmutter, wie beispielsweise im Märchen „Rotkäppchen und der böse Wolf“. Positiv besetzt ist hingegen die „Muttersprache“, doch die Heimat ist das „Vaterland“. In eine Herberge gingen früher vermutlich hauptsächlich Herren, so dass sie zu ihrem Namen kam (Pusch spricht von „Herr-berge“), während die Frauen ihrer gesellschaftlich sanktionierten Pflicht entsprechend das Haus hüteten und am heimischen Herd kochten. Für den „Oheim“ als Vaterfigur gibt es kein begriffliches Pendant, während „Patentante“ und „Patenonkel“ in der Sprache gleichberechtigt nebeneinander existieren dürfen.

Die feministische Linguistik entlarvt die Geschichte und Struktur der Sprachen als Männergeschichte und Männerstruktur. Sprachen als Bauwerke, von Männern errichtet, damit Männer darin wohnen und sich wohlfühlen können.“18

 

 

1 Manfred Schneider, EH; S. 39f.

2 Donna Haraway, Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. (1988), in: dies: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt 1995, S. 88.

3 Ebd., S. 82.

4 Donna Haraway: Situiertes Wissen, S. 73-97, S. 79.

5 Dies., S. 84.

6 S. 83.

7 Manfred Schneider, EH, S. 39f.

8 Vgl. M. Wimmer: Fremde, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1994, S. 1072.

9 S. 267.

10 S. 278.

11 Greenblatt nennt und erläutert den Modus wissenschaftlicher Erinnerung nicht explizit, sondern dieser ist nur konsequent aus seinen Texten als notwendig unabschließbar und selbstreflexiv abzuleiten.

12 S. 33.

13 Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. Main 1993, S. 125f.

14 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. Main 1973, S. 158.

15 Deleuze 1993, S. 126.

16 Ebd., S. 128.

17 Luise F. Pusch: Das Deutsch als Männersprache, Franfurt a. Main 1984, siehe Buchdeckel.

18 Dies. 1984, siehe Klappentext.