Rezension

John Breuilly: The Formation of the First German Nation-State 1800-1871
Macmillan Press Ltd. (London 1996), 145 Seiten

 

Dass die Gründung des Deutschen Kaiserreichs und der Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus keinem "deutschen Sonderweg" entsprang, haben Historiker vor allem seit den 1980er Jahren nachzuweisen versucht. Auch Thomas Nipperdey wollte mit seiner provokativ klingenden Formulierung "am Anfang war Bismarck" diesen Versuchen ebensowenig entgegentreten wie eine personalistische Geschichtsauffassung als solche wieder salonfähig machen. Vielmehr ging es ihm in seiner "Deutschen Geschichte" darum zu zeigen, dass die Reichsgründung ohne Otto von Bismarck eben doch ganz anders gekommen wäre - eine Sichtweise, der der britische Historiker John Breuilly sicherlich nicht widersprechen würde.

Mit seiner Einführungsdarstellung "The Formation of the First German Nation-State 1800-1871" legt Breuilly eine Analyse vor, die das "Normale" im Sinne des Gemeineuropäischen des Prozesses aufzeigen möchte: die Reichsgründung als deutsche Variante eines allgemein-europäischen Entwicklungsmusters, herbeigeführt durch das politische Geschick Bismarcks und seiner Weggefährten, alles andere als zufällig oder willkürlich und sicherlich nicht schicksalhaft vorherbestimmt. Zu erklären gilt es demnach weniger welche Abweichungen von einer vermeintlichen Norm den deutschen Sonderweg bestimmten, sondern vielmehr wie es zu dieser spezifischen Ausprägung eines deutschen Nationalstaates kam.

Das ist gewiß kein gänzlich neuer Ansatz. Das Neue liegt aber darin, dass hier über die Betrachtung der deutschen Geschichte als Beispiel ein Blick auf die Vielschichtigkeit und die Multidimensionalität nationalstaatlicher Entwicklungen im europäischen Vergleich freigegeben wird. Die Perspektive ist daher nicht diejenige Bismarcks als dem "Helden der Geschichte", noch kann die Ex-Post-Perspektive der Reichsgründung 1871 zum Ausgangspunkt einer Analyse genommen werden. Um den Weg zur Reichsgründung in seiner gesamten Komplexität zu erfassen, wird diese vielmehr aus verschiedenen Perspektiven - einer gesamteuropäischen, einer gesamtdeutschen und schließlich einer preußischen und österreichischen Perspektive in den Blick genommen. Dies ermöglicht dem Verfasser einen Blick auf die Bedingungen für jene Folgeprozesse: die Kriege, deren Resultat das Kaiserreich letztlich war. Diese Perspektivenvielfalt macht dem Leser eindringlich bewußt, auf welche Weise hier unterschiedliche Faktoren in der Nationsbildung zusammengewirkt haben.

Im letzten Kapitel seiner Arbeit verwirft der Autor das Konzept von der "Einigung Deutschlands" (unification) zugunsten der Formulierung von der "Gründung eines deutschen Nationalstaates". Die scheinbar unwesentliche Akzentuierung will besagen, dass gewaltsame territoriale Abspaltungen bzw. Eingliederungen wohl schwerlich als friedliche Vereinigung einzelner deutscher Staaten bezeichnet werden können, sondern eher als Zerstörung vielfältiger Souveränitäten, die letztendlich in eine einzelne Souveränität, nämlich die des preußischen Staates, mündeten. Was das Kaiserreich schließlich "national" machte, war der Umstand, dass der Großteil seiner Untertanen deutsch im territorialen wie auch im sprachlichen Sinne war, wobei auch hier das spezifisch Nationale erst aus der Interpretation der Fakten zu folgen scheint: Staatsbürgerschaft war so wenig eindeutig definiert wie die Rechte, die aus ihr folgen sollten. Nationalität läßt sich in diesem Rückblick folglich nur als eine Kategorie konstruieren, die unabhängig von Staatszugehörigkeit bestand bzw. ihr vorausging.

Einen wichtigen Aspekt der deutschen Nationalstaatsgründung stellt Breuilly mit dem Hinweis zur Diskussion, dass nationales Bewußtsein und die intellektuell-geistigen Bestrebungen zur Schaffung eines solchen für die eigentliche Reichsgründung relativ unbedeutend waren und zumeist in der Forschung überschätzt worden sind. Breuillys Schlußfolgerung, der preußisch-deutsche Staat sei trotz aller Alternativmöglichkeiten der einzig denkbare Nationalstaat gewesen, d. h. ein einzelner souveräner Territorialstaat, in dem eine deutsche Nationalität vorherrschte, wird vor dem Gesamthintergrund überzeugend dargestellt.

Der Vorzug dieser Einführungsdarstellung liegt zweifelsohne darin, dass sie den Leser kompakt und stringent argumentierend, in Kürze auf die zentralen Problemlagen und Ereignisse aufmerksam macht. Vieles, was vertraut klingt, wird in einen systematisch-analytischen Rahmen gestellt, der neueste Forschungsergebnisse ebenso berücksichtigt wie er eine gesamteuropäische Perspektive nie aus dem Auge verliert. Ob sich John Breuilly, der im Politik-Department der LSE in London lehrt, mit seiner Argumentation auf die Seite der Sonderwegsgegner begeben hat, mag dahingestellt bleiben. Diese Frage tritt bei ihm hinter dem Anliegen zurück, den Forschungsstand mit eigenen Überlegungen zu einer einführenden Synthese zu verarbeiten. Dies ist dem Autor durchaus gelungen. Ob dagegen dieses Buch, das in der Reihe "Studies in European History" erschienen ist, von kommenden Generationen zu Hilfe genommen werden wird, liegt wohl auch in  den Händen derjenigen, deren Beruf es ist, Geschichte nicht nur zu erforschen, sondern auch sie in den dafür vorgesehenen Institutionen ansprechend zu vermitteln.

 

geschrieben von Devrim Karahasan, 10. Semester (1997)